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Von der Netzhaut gefangen (Wilhelm Bartsch)

Christoph Liedtkes Art Book „Der große Atlasspinner“ zeugt schon auf den ersten Blick und von der ersten Zeile an vom alle Genres übergreifenden künstlerischen Naturell eines erfrischend direkten Künstlers. Er ist Maler, Plastiker, Grafiker, Fotograf und Filmemacher, aber zugleich auch noch Musiker und vor allem auch ein bereits gestandener Dichter. Der Gedichtband und Bildband, das Künstlerbuch „Der große Atlasspinner“ zeigt die Arbeiten eines vielseitigen und ansteckend weltzugewandten Künstlers. Man kann und darf, und man soll sich Christoph Liedtkes künstlerische Arbeitsweise durchaus auch so vorstellen, wie er es selber in seinem schlichten und schlicht schönen Gedicht „bilder“ beschreibt: „geh` raus und nimm dir nichts mit./ hinter den gärten zieh` deine kreise,/ wie fuchs und marder am feldrand./ später dann, komm zurück/ mit scheuem blick, zögerlich,/ von deiner netzhaut gefangen/ bilder die dich wissend machen.“

Das erinnert an Robert Walser in seiner großen Erzählung „Der Spaziergang“, doch Christoph Liedtkes Blick ist detaillierter, zuweilen sogar mikroskopisch, wie wir schnell beim Sehen und Lesen merken, und zwar ist er es auf eine nahezu philosophische und naturkundliche und genau auf diesem Weg auch poetische Weise. Vor allem ist Christoph Liedtke der Vergänglichkeit und dem Vergehen eher als dem Werden und überhaupt dem Gestaltwandel alles Seienden auf der Spur. Dabei thematisiert er aber nicht, zumindest nicht allzu oft, die üblichen Weltuntergangsszenarien, ja noch nicht einmal Entropisches, wie es ja auch hervorgerufen wird etwa durch den Klimawandel oder die Abnahme der Biodiversität. Jean Baudrillards homöopathisches, tröpfchenweises Vergehen der Welt ist jedenfalls nicht Christoph Liedtkes Hauptthema, wenn auch etwa seine Paraphrasen zu Inger Christensens „gedicht vom tod“ durchaus einen zentralen Platz in diesem Künstlerbuch beanspruchen. Die Dänin Inger Christensen, Mathematikerin, Wissenschaftlerin und Welt-Poetin dazu, zählt zu den großen Geistern, die die Liedtke-Komposition durchwalten.

Für die Bildwelt könnte man hier etwa auch Cy Twombly nennen mit seinen floralen und schriftzeichengeprägten Arbeiten. Entropische Prozesse sind, zumindest meistens, auch wiederum Teil von Entstehungsprozessen. Den von Christoph Liedtke entdeckten Strukturen solcher Prozesse entlockt er zum Teil wunderbare, zumindest wundersame, niemals langweilige oder schon gar nicht traurig lähmende Erzählungen.

Seine Funde, auch die literarischen, sind im besten Sinn entweder ganz oder als ästhetische Ausgangspunkte Objets trouvés oder Ready-mades, und die gewinnen bei ihm eine eher kraftvolle, oft sogar optimistische Strahlkraft.

Es nimmt hier nicht wunder, dass auf diese Weise auch schönste, und das heißt vor allem widerspruchsgesättigte Liebesgedichte zu Recht in dieser doch auch recht opulenten Komposition ihren Platz gefunden haben um den Atlasspinner herum, der ein bißchen augenzwinkernd auch Christoph Liedtke heißen könnte. Objets trouvés oder Ready-mades kommen jedoch nicht von allein ins Atelier oder an den Schreibtisch. Sie sind auch nicht im Reich des Digitalen und noch nicht einmal nur durch Spaziergänge hinter die Gärten zu finden, wenn dort auch erstaunlichste Entdeckungen zu machen sind, etwa ein junimund auf stängeln“, also Mohn, wie ihn Christoph Liedtke so präzise und bekennend urromantisch gesehen hat.

Und so ist „Der große Atlasspinner“ auch ein Reisebuch, gewissermaßen ein Reisebuch durch ein anderes Buch, durch das kostbarste Buch, das es gibt, weil nur ein Exemplar davon existiert, nämlich das der irdischen Landschaften, die Erde, das Reich von dieser Welt, in Christoph Liedtkes Künstlerbuch also die von ihm bereisten Städte und Länder Istanbul und Anatolien, Tokyo und Japan, Rom und Italien, Griechenland, Georgien, Marokko, Litauen und Kroatien – und eben auch das den meisten Menschen noch unbekannt gebliebene Reich in den und hinter den Gärten vor der eigenen Haustür. Natur und Umwelt bergen zugleich schon Kunst und Poesie in sich. Es braucht Leute wie Christoph Liedtke, um das immer wieder gut sichtbar zu machen.